Mittwoch, 9. September 2015
#1 Eine neue Welt, hinter Schallschutz, Bildschirmen und Headsets
Wieso ich diesen Blog schreibe, fragen sich viele nun. Schließlich gibt es unzählige Telefonistinnen, Callcenter-Agentinnen und wie sie sich nennen möchten.

Ganz einfach: Zum einen, um die täglichen Erlebnisse zu verarbeiten und vielleicht auch mit der Welt zu teilen. Aber in erster Linie wohl um meine Gedanken fest zuhalten.

Aber gut, lasst uns beginnen.



HERZLICH WILLKOMMEN!

Sie haben es geschafft! SIE haben sich gegen mehr oder weniger unzählige Mitstreiter im Kampf um einen neuen Arbeitsplatz bewiesen und ihren Vertrag unterzeichnet. Sie dürfen sich nun ganz Stolz Telefo... Entschuldigung "Callcenter-Agentin" nennen.

Sie haben richtig Gehört. Call-Center-Agentin. Da kommt man sich doch gleich ganz wichtig vor.
Ihre Aufgaben sind: Die Bestellungen, Anfragen und Anliegen ihrer Kunden zu bearbeiten, natürlich zu deren Zufriedenheit. Neben der Bestellannahe heißt das auch, dass sie Lieferauskunft geben, Kontenauskunft, Beratung über Material und Beschaffenheit der Produkte und das ganz ohne die Ware jemals gesehen zu haben. Ihre Fähigkeiten werden auch in sozialen Fragen gefordert, beispielsweise wenn ein Kunde verzweifelt ist und nicht weis welche Größe er bestellen muss oder genau DIESEN Artiel schon in drei Tagen braucht.. und das obwohl er erst in vier Wochen lieferbar ist... aber gut. Dazu später mehr.

Sie betreten nun also an ihrem ersten Arbeitstag das Center, ein Lärmpegel schwappt ihnen entgegen der sich draußen vor der Tür nicht einmal hat erahnen lassen. Aber sie schaffen das! SIE sind Callcenter-Agentin! Genau, Agentin! Sie stellen sich schon in schicker Uniform vor, wie sie totaaal wichtig den Flur entlangschweben und ihre Kollegen sie mit Salut grüßen.. Aber nichts da. Erst einmal geht es zur Schulung. Und glauben Sie nicht, dass man sie wegen guter Noten eingestellt hat oder wegen Ihres überzeugenden Auftreten. Zuerst einmal wird jeder eingestellt der sich in halbwegs sicherem Hochdeutsch ausdrücken kann. Die ersten werden während der Schulung gehen, die andern werden nach und nach aussortiert.


Aber gut: Weiter zur Schulung, vorbei an ihren zukünftigen Kollegen, die angestrengt auf den Bildschirm starren und sich gegen die Flut von Anrufen durchzusetzen versuchen. Und schon wird die Tür hinter ihnen geschloßen. Vor ihnen breitet sich ein kleiner Raum aus, neun stühle, vier Bildschirme mit Mini-Pcs dahinter und ein Projektor, der ihnen unangenehm in die Augen leuchtet. Sie nehmen platz und warten auf die anderen Teilnehmer.
Man stellt sich vor, unterhällt sich kurz bis es los geht. Überwiegend haben Sie Studenten, Schüler und Frauen um sich, die wie Sie selbst noch etwas dazu verdienen wollen. Minijobber, 450€-Basis, Teilzeitkräfte. Nur die Wenigsten wagen es hier einen 8-Stunden Job zu beginnen.
Die Schulung, wie ihnen berichtet wird, wird zwei Wochen dauern.
Zwei Wochen in denen man Ihnen die Programme erklärt, Ihnen die Mandanten vorstellt für die sie telefonieren werden. Ja.. Mandanten... mehrzahl. Glaubten Sie, dass sie nur für ein Versandhaus arbeiten? Das wäre doch unproduktiv. Es sind neun. Machen Sie sich keine Sorgen, die Anderen schaffen das ja auch.. hoffendlich.

In regelmäßigen Abständen werden ihnen nun Vordrucke serviert, die sie zuhause nocheinmal durcharbeiten müssen und das Wichtigste: Der Leitfaden. SIE führen das Gespräch.. in der Theorie.. Lernen Sie den Leitfaden! Am besten so, dass sie ihn auswendig runter rattern können.

Schneller als sie sich versehen können sind vier Tage rum. Und morgen? Geht es ans Telefon. Was?? Es hieß doch zwei Wochen Schulung! Achja... sagten wir das? Damit ist natürlich auch die praktische Arbeit am Telefon gemeint... naaa super.

Also los! Stürzen wir uns in die Anruferflut. Natürlich haben wir den Leitfaden gelernt und uns Notizen gemacht um schnell darauf zugreifen zu können. Die liegen vor uns, zusammen mit einem Stift und einem Notizblock. Der Ordner mit all den wichtigen Infos ausgebreitet zu unserer Linken. Rechts von uns das Telefon mit all seinen Tasten und Funktionen, vor uns Bildschirm, Maus und Tastatur. Kann ja nichts mehr schief gehen.

Im Kopf gehen wir nochmal den Leitfaden durch:

- Einen schönen guten Tag, Versandhaus XY. Mein Name ist ....

Jetzt wird der Kunde sagen, dass er bestellen möchte.
-Gerne, Ihre Kundennummer bitte.

Der Kunde gibt die Nummer an, man tippt sie ein, gleicht die Adresse ab und nimmt die Artikel auf. Man bietet zwischendurch ein paar ausgesuchte Waren an, die dem Kunden vielleicht, vielleicht auch nicht, gefallen könnten, ebenso am Ende. Man nennt die Lieferzeit, bedankt sich und legt auf. ... Eh.. moment..Sie legen auf? Nein.. das macht der Kunde.. also warten bis er die Taste gefunden hat... Sie glauben nicht wie viele im Zeitalter von Smartphone verlernt haben auf den roten Knopf am Telefon zu drücken...


So und nicht anders läuft eine Bestellung ab... in der Theorie...
Als Alternative gibt es noch die Kunden die ihre Kundennummer nicht vorliegen haben, dazu haben wir aber unzählig Möglichkeiten das Konto rauszusuchen, Problematisch wird es, wenn der Kunde weder seine Kundennummer noch seine Postleitzahl weis. Und natürlich hat er sein Geburtsdatum auch nicht hinterlegt... Dann... ja dann tuts mir leid. Dann rufen Sie bitte wieder an wenn Sie mir Daten geben können nach denen ich suchen kann. Und gerade als man sich auf das Auflegen des Kunden vorbereitet findet er die Nummer doch... natürlich erst mal mit Zahlendreher.
Das ist schon realitätsnaher. Und Neukunden gibts ja auch noch.

Die Erste Woche ist geschafft. Sie haben einen ersten Eindruck von ihrem neuen Leben als Callcenter-Agentin gewinnen können und freuen sich schon auf die nächsten Schichten. Ach ja.. Sie erfahren immer erst den Tag zuvor wie sie arbeiten. Sie haben frei? Macht doch nichts, dann rufen Sie eben an und fragen nach. Ist doch alles kein Problem =)

Montag morgen: Sie haben das Wochenende damit verbracht nochmal all ihre Unterlagen durch zuarbeiten, Postits zu setzen, ihre Notizen auszubessern und zu erweitern und wieder und wieder den Leitfaden geübt. Den müssen sie einfach auswendig kennen.. ganz wichtig!

Im Gegensatz zu letzter Woche sitzt nun niemand mehr neben Ihnen. Hey! Sie sind schließlich schon geübt im Umgang mit den Kunden, also nur keine Sorge, sollte doch etwas sein können sie den Kunden ja um etwas Geduld bitten, nach vorne kommen und fragen. Doof nur, wenn diesen Plan mehrere Kollegen gleichzeitig haben und Sie anstehen müssen.

Die aufkommende Panik der ersten ein-zwei Wochen legt sich in den kommenden Tagen, sie werden sicherer im Programm, wissen genau wie eine Bestellung erfasst wird und können auch eine Lieferanfrage bearbeiten. Alles kein Problem!.. Fast...

In der Theorie ist es so: Alles was ums Konto geht leiten Sie weiter, also Guthaben- und Schuldenfragen, Fragen zu Ratenbeträgen, Fälligkeit und Änderungen der Zahlart. In der Praxis bekommen sie auf jede zweite Frage die Anweisung das Anliegen weiter zu leiten. Das heißt: Artikel beschädigt-> weiter leiten. Artikel unvollständig -> weiter leiten. Beschreibung fehlt -> weiter leiten... und so weiter und so weiter.

Nach und nach lernen Sie, dass sie viele der Dinge, statt sie weiter zu leiten bzw den Kunden zu vertrösten, dass gerade keine Leitung frei ist auch drucken können. Also das Anliegen im System notieren und zu den Kollegen schicken, die es bearbeiten können. Kunde raus aus der Leitung und der nächste rein.

Ach ja.. ich hab da etwas vergessen... für die Bearbeitung eines Telefonats, ganz egal welches Anliegen der Kunde hat, haben sie 160 Sekunden Zeit. Richtig. 160 Sekunden, das sind ~ 2 1/2 Minuten.
Bei einer simplen Bestellung a la: Meine Kundennummer 01234567, die Bestellnummer 98765432, in Größe XY un in größe YX. Das wars auch schon, danke. - Ist das kein Problem. Schwierig wird es wenn die Kundennummer erst gesucht werden muss und der Kunde (- Ist ja König) das Telefon zur Seite legt und erst mal im Prospekt blättert... und blättert... und du wartest, rufst nach ihm.. er ruft zurück, dass ers gleich hat... und so weiter... Aber ein Callcenter wäre ja kein Callcenter wenn es auf dieses Problem nicht angemessen reagieren würde.

Täglich hängen deine Gesprächzeiten, angebotene und angenommene Anrufen und so weiter aus. In dieser Liste kannst du nachschauen wie deine tägliche Durchschnittszeit war. An sich ein guter Plan. Du kannst mit den Anrufen die schnell abgearbeitet sind die die länger dauern ausgleichen.. In der Theorie.
Aber wir haben ja einen neuen Job! Also meckern wir nicht.

Am Abend fallen wir erst einmal erschöpft ins Bett und träumen von Kundennummern, Artikelnummern, Bestellgrößen, Liefernachfragen und mit dem sanften RING-RING in unserer Erinnerung schlafen wir ein...

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Jetzt werde ich die "Call-Center-Agentinnen" mit ganz anderen Augen... ähh, Ohren wahrnehmen. :-)

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Oh man :D
Hallo sakori :D Vielen Dank für den Hinweis auf der Seite, alleine mit der Einleitung sprichst du mir aus der Seele :D

Ich hätte noch etwas hinzuzufügen als Call Center Agent:

Die gesetzlich verordneten 5 Minuten Bildschirmpause, die man nach jeder vollen Stunde machen muss(!)* werden natürlich auch nicht eingehalten unter dem Vorwand, man könne ja sonst nicht ordentlich arbeiten und ausserdem würden die sowieso nicht bezahlt.

Zum Stern*:
Nach jeder vollen Stunde Bildschirmtätigkeit muss man seine Augen 5 Minuten vom Bildschirm abwenden und ggf. andere Tätigkeiten in seinem Job machen. Tut man das nicht und bekommt später ein Augenleiden, kann man sogar die Behandlung selbst bezahlen, wenns raus kommt.

Tolles Blog =) Weiter so!

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10%
So siehts aus, aber dazu haben wir ja die 10% zur Verfügung, die wir nutzen können um Nachbearbeitungen zu machen. Das ist doch alles durchdacht :D

Freu mich, dass es dir gefällt.

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